Lernen,
gemeinsam zu lernen
Edgar Frey
„Traut den jungen Menschen mehr zu...”
Edgar Frey, Leiter Berufsausbildung Elektrotechnik, Volkswagen AG
Warum haben Sie die Art und Weise der beruflichen Ausbildung in Ihrem Unternehmen verändert?
Als wir anfingen, darüber nachzudenken, wie eine moderne und motivierende Ausbildung zukünftig aussehen könnte, haben wir gemeinsam im Team verschiedene Aspekte betrachtet: Angefangen bei meinen eigenen Erfahrungen in der Ausbildung bei Volkswagen. Ich habe persönlich festgestellt, dass sich in den letzten 20 Jahren in der Art und Weise, wie wir lehren und lernen wenig verändert hat. Dann habe ich unser Umfeld angeschaut, in dem sich enorm viel verändert, nicht nur, was die Technologie betrifft, sondern auch die Interaktion und Zusammenarbeitskultur im Arbeitsumfeld. Wir merken an den Auszubildenden, dass in der Schule tendenziell frontal und weniger aus der Eigenmotivation und der Lust am Wissens- und Kompetenzaufbau heraus gelernt wird. Ich bezweifle, dass wir angesichts der enormen Veränderungen in der Arbeitswelt mit den bisherigen Bildungskonzepten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen um uns herum bewältigen können.
Uns war somit schnell klar, ein reines Update der Berufsbildung reicht nicht, wir brauchen ein neues Bildungskonzept. Mit Third Place haben wir den Raum hierfür geschaffen. Der Begriff kommt aus der Soziologie und bezeichnet gemeinschaftliche Orte, die nicht Arbeit, aber auch nicht Privatbereich sind. Hier leben wir ein kollaboratives Weiterentwickeln, in einer Gemeinschaft aus Lernbegleitern und Lernenden.
Welche Kompetenzen vermitteln Sie den Auszubildenden?
Wir haben die Kompetenzen in vier Bereiche gegliedert, angelehnt an den Bildungsansatz der UNESCO. Erstens: Lernen, Wissen zu erwerben. Wir sagen unseren Auszubildenden, das ist der Schlüssel, den wir euch geben. Ihr könnt im Leben alles lernen, egal, worauf ihr Lust habt. Zweitens: Lernen, verantwortungsvoll zu handeln. Jeder beeinflusst mit seinem Verhalten bestimmte Entwicklungen. Sich dessen bewusst zu sein und entsprechend zu handeln, ist eine wichtige Kompetenz. Drittens: Lernen, zusammenzuleben. Wir verfolgen einen kooperativen Ansatz, damit Auszubildende täglich erleben, dass wir als Einzelpersonen weniger bewirken als in der Gruppe, im Team. Und viertens: Lernen, zu sein. Das ist eine der fast schon philosophischen Grundlagen für eine Fachkraft von morgen: Zu wissen, warum man etwas macht.
Was bedeutet das konkret für die Ausbildung?
Ziel und Slogan unserer Ausbildung ist es: Lernen, die Welt positiv zu verändern und aktiv zu gestalten. Wir fangen in kleinen Wirkungskreisen an und erklären, du musst dich selbst hinterfragen; lerne, deine Welt um dich herum verantwortungsvoll zu verändern. Dann hat das immer größere Wirkungskreise, in die Kollegen, die Volkswagen-Welt und dein privates Umfeld hinein.
Schnell stand auf Basis aller Überlegungen fest, dass Frontalunterricht für das Third-Place-Konzept nicht infrage kommt. Im ersten Jahr sind die Auszubildenden bei uns im Bildungszentrum. Sie lernen agil, d. h. sie gestalten ihre Lernprojekte selbst in hoher Eigenverantwortung und bearbeiten Aufgaben gemeinsam in kleinen Gruppen. Der Ausbildungspfad umfasst unterschiedliche Formate, von klassischen Workshops bis hin zu Langzeit-Projekten mit kleinen Challenges, also Wettbewerben und Meilensteinen. Neben den Laborräumen befinden sich Freiflächen, auf denen die Auszubildenden ihre Projekte bearbeiten.
Natürlich gibt es die notwendigen Fachbausteine. Aber mit Individual-, Zukunfts- und Kreativbausteinen legen wir ein Fundament, mit dem sie die Fachinhalte besser selbstständig durchdringen können. In Design-Thinking-Workshops etwa lernen sie, wie man auf kreative Art und Weise Probleme lösen kann.
Wie bereiten Sie die Ausbilder auf das neue Konzept vor?
Wir haben einen neunmonatigen Lernpfad entwickelt, um auch unsere Lernbegleiter zu befähigen, dieses Konzept zu leben und hier auch als Vorbild zu fungieren. Sie lernen ebenfalls über sehr unterschiedliche Formate, in Präsenz und online. Über diese neun Monate hinaus können sie auf einer Austauschplattform gemeinsame Erfahrungen teilen und so auch voneinander lernen.
Wir sind im letzten Jahr zunächst mit 36 Auszubildenden im Third-Place-Konzept gestartet und erweitern es nun auf 60 Auszubildende. So gehen wir Schritt für Schritt vor, schauen, wie es funktioniert und lernen daraus. Im nächsten Jahr werden wir die Elektroberufe komplett auf das Third-Place-Konzept umstellen.
Was raten Sie kleineren Unternehmen, die ihr Ausbildungskonzept verändern möchten?
Das Erste ist: Traut den jungen Menschen mehr zu, gebt Verantwortung ab und etabliert eine offene Feedback- und Kooperationskultur auf Augenhöhe. Und das Zweite ist: Fangt an, eure Ausbilderinnen und Ausbilder weiter zu befähigen. Denn am Ende sind sie und die Lehrkräfte in der Schule diejenigen, die tagtäglich am meisten bewirken können. Auszubildenden agiles Lernen zugänglich zu machen, ist ebenso ein wichtiger Schritt. Zum Beispiel morgens zu sagen: Was haben wir heute vor, was wollt ihr lernen, woran wollt ihr arbeiten? Wir bauen beispielsweise am Nachmittag immer einen Baustein ein, der nennt sich „Today I Learned“. Jeder sagt, was er an dem Tag gelernt hat. Das ist ganz einfach, hat aber eine große Wirkung, um sich den eigenen Lernfortschritt bewusst zu machen.